Stress und Beschwichtigungsignale bei Hunden in Theorie und Praxis

Seminar von Clarissa von Reinhardt (D) vom 19.-20.2.2005

 TEIL 1: STRESS BEI HUNDEN

Stress ist generell die Diskrepanz zwischen spezifischen Anforderungen an einen Organismus und dessen subjektiven Bewältigungsverhaltens. Also: Äußere Einwirkungen, an die der Körper nicht adaptiert ist, verursachen Stress. Oder einfach: Stress ist, wenn’s zuviel wird! Dabei ist es letztlich egal, ob es sich um negativ behafteten oder positiven Stress handelt.

Welche Stressfaktoren gibt es?
Äußere Stressoren werden über die Sinnesorgane wahrgenommen, also über Augen, Ohren, Nase und Berührungen/Schmerz und können zur Reizüberflutung führen. Die Nichterfüllung primärer Bedürfnisse wie z.B. von Durst, Hunger, Harndrang verursacht massiven Stress.
Leistungsstressoren, also z.B. Erwartungsdruck am Turnier oder einfach die Erwartungshaltung des Frauchens/Herrchens, dass der Hund sich „gut benehmen“ soll, können den Hund so belasten, dass dann letztlich gar nichts mehr geht.
In den Bereich sozialer Stressoren fallen z.B. Situationen, in denen der Mensch spürbar unzufrieden mit seinem Hund ist oder wenn der Hund aus unserem Lebensbereich ausgegrenzt wird.
Permanente Konflikte im Haushalt bzw. in einer Partnerschaft oder Angst bereiten dem Hund psychischen Stress.
Und letztlich gibt es noch die sog. inneren Stressoren, darunter fallen Stresssituationen, die aus Krankheiten (akut oder chronisch), Behinderungen oder Schmerzen des Hundes resultieren.

Wie läuft die Stressreaktion ab?
Die Stressreaktion läuft in 3 Phasen ab:
1. Alarmreaktionsphase: Das Zusammenspiel von Nervenimpulsen und Hormonausschüttungen (siehe unten) führt zur optimalen Reaktionsbereitschaft für Flucht oder Kampf.
2. Widerstandsphase: Der Widerstand gegenüber dem Auslöser des primären Stresses ist erhöht, jener gegenüber anderen Reizen jedoch herabgesetzt. Der Versuch den primären Stress zu bewältigen geht also zu Lasten der Widerstandsfähigkeit gegenüber anderen Stressoren. (Das kann man sich ca. so vorstellen: Wenn ich permanent Stress mit meinem Chef habe, gewöhne ich mich sukzessive an diesen Stress, aber habe vielleicht öfters wegen Kleinigkeiten Streit mit meinem Partner.)
3. Erschöpfungsphase: Andauerndem Stress kann der Organismus trotz der ursprünglich erfolgten Anpassung nicht mehr standhalten. Die Symptome der Alarmreaktion stellen sich wieder ein, aber nun dauerhaft, wodurch es zur Ausbildung organischer Krankheiten kommen kann.

Welche Stresshormone werden ausgeschüttet?
Die Wahrnehmung von Stress führt akut zu Adrenalinausschüttung, deren Höhepunkt nach ca.10-15 Minuten erreicht ist. Adrenalin wird primär in den Muskel ausgeschüttet und macht schnell und abwehrbereit für Flucht und Kampf! Beim Menschen führt stressbedingte Adrenalinausschüttung zu verstärktem Gestikulieren und Herumlaufen. Auf den Hund umgelegt bedeutet das, dass wir auch unserem Vierbeiner nach erlebten Stresssituationen die Möglichkeit geben müssen, sich ausreichend durch Bewegung „abzureagieren“. Es ist also völlig verkehrt, einem Hund, der gerade seinen Erzfeind trifft, ein Sitz- oder Platzkommando zu geben, das wird die Situation höchstens verschärfen!!!
Parallel dazu werden jedoch noch andere Hormone ausgeschüttet:
Aldosteron ist ein Hormon, das den Wasserhaushalt steuert und im Stress zu vermehrtem Absetzen von Harn, aber auch Kot führt und ausserdem zu vermehrtem Hecheln.
Cortisol, das körpereigene Äquivalent von Cortison, wirkt entzündungshemmend, aber unterdrückt auch die Produktion von Abwehrzellen, wirkt also immunsupprimierend.
Sexualhormone steigern die Abwehr- und Aggressionsbereitschaft.

Außerdem steigert Stress die Produktion des Magensaftes, der Hund wird also buchstäblich „sauer“!!! Das kann entweder zu Völlegefühl oder aber auch zu stressbedingten Fressattacken führten – wer von uns kennt das nicht?

Aus der Sicht des Hormonstatus betrachtet braucht der Hund – je nach Intensität und Dauer des Stressreizes – von ½ bis zu 6 Tagen, um wieder in den Normalzustand zurückzukehren. D.h. sowohl nach positivem, als auch nach negativem Stress braucht der Hund auf jeden Fall Pause! Wenn sich Stresshormone ansammeln, kommt es zu überschießenden Reaktionen. Vorsicht: Da die Toleranz gegenüber anderen Reizen nach Stresssituationen herabgesetzt ist (siehe oben: Widerstandsphase), kann der Hund, in der Zeit, in der die Stresshormone aktiv sind, unerwartete (Über-) Reaktionen zeigen, also z.B. sich mit Hunden, mit denen er sonst friedlich spielen würde, in die Wolle kriegen!

Was bedeuten die Ausdrücke „Eustress“ und „Disstress“?
Als Eustress bezeichnet man den notwendigen und biologisch sinnvollen Stress, der zur Aktivierung der optimalen Leistungsfähigkeit führt.
Disstress hingegen ist ein zu viel an Stress und ein zu wenig an adäquater Ruhephase, was letztlich in gesundheitlichen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten resultiert.

In welchen Symptomen äußert sich Stress beim Hund?

  • Hecheln, Nervosität, Ruhelosigkeit, Überreaktionen durch erniedrigte Reizschwelle treten besonders  bei angstbedingtem Stress auf, z.B. bei Gewitter
     

  • der Hund zeigt Beschwichtigungssignale (siehe unten)
     

  • es kommt zu häufigerem Absetzen von Kot und Urin (vgl. Adrenalinausschüttung)
     

  • Magenprobleme, Erbrechen, Appetitlosigkeit treten auf
     

  • übertriebene Körperpflege bis hin zum Wundlecken (besonders an den Extremitäten, der Rute und im Genitalbereich) resultiert oft aus zu wenig Sozialkontakten bzw. mangelnder Beschäftigung
     

  •  stressmotiviertes Aufreiten
     

  • der Hund neigt zu Allergien, plötzlichem Haarausfall, oder schüttelt sich extrem häufig
     

  • Zerstörungswut und Dauerbellen wirken auf den Hund beruhigend, da sowohl beim Kauen, als auch
    beim Bellen so genannte Endorphine (endogene Morphine) freigesetzt werden, die schmerzstillende, beruhigende Wirkung haben
     

  •  manche Hunde entwickeln unangenehmen Körper- oder Maulgeruch

Nimmt man diese Symptome an seinem Hund wahr, muss man auf jeden Fall den Gesamtzusammenhang betrachten, denn natürlich kann ein nicht gestresster Hund auch einfach hecheln, weil es heiß ist, oder Kot und Harn absetzen, weil er einfach gerade mal muss. Man sollte beobachten, unter welchen Bedingungen das Symptom auftritt, wie häufig es auftritt und ob der Hund verschiedene Symptome gleichzeitig oder hintereinander zeigt.

Welche stressauslösenden Faktoren gibt es?

  • Krankheiten stressen, da sie die Leistungsfähigkeit und die Sinnesempfindungen beeinträchtigen; besonderen Stress lösen Schmerzen und chronische Erkrankungen aus
     

  • Erwartungsunsicherheit stresst, da der Hund von seinem Menschen unsichere und unklare Signale oder Kommandos erhält und nicht weiß, wie er sich verhalten soll – also bitte immer zuerst denken und dann 1 klares Kommando (=1Wort) in Ruhe geben
     

  • Hundesport kann stressen, wenn der Leistungsdruck aufgrund des Ehrgeizes des Hundeführers zu hoch wird; der Hund kann Versagensängste zeigen; auch die körperliche Belastung und das „Hochpushen“ durch schnelles Rennen (Agility) sind Stress pur!
     

  • In die gleiche Kategorie fallen auch Ball- bzw. Rennspiele – mit „nervösen“ Hunde sollte man besser Nasenarbeit machen, kommunikatives Spazierengehen praktizieren, Versteck- bzw. Suchspiele (Dinge verstecken) veranstalten, und es gibt auch tolles interaktives Hundespielzeug, wie z.B. Domino (dogbrick) oder Solitär (dogsmart), das intelligenzfördernd und beruhigend wirkt und den Hund geistig angenehm müde macht (http://www.pet-pillow.de/nina_ottosson_interaktives_spielzeug.htm)
     

  • Massive Stressoren sind die Nichterfüllung von Grundbedürfnissen, oder das Eintreten plötzlicher Veränderungen (Übersiedelung, neue Menschen im näheren Umfeld)
     

  • Die Bedrohung durch bzw. die Auseinandersetzung mit Artgenossen kann Hunde sehr stressen, insbesondere, wenn sie im gleichen Haushalt leben müssen
     

  • Auch die Teilnahme an Welpenspielgruppen kann durch Überforderung, Reizüberflutung und Überanstrengung zu Stressreaktionen führen, wenn zu viel Action herrscht
     

  • Hektik, Ärger und Aggression im Alltag, aber auch positive, emotionale Anregungen erzeugen Stress
     

  • Verlassensängste (alleine bleiben zu müssen), aber auch die Unterschreitung der Individualdistanz (wenn ein Hund keine Möglichkeit hat, einem Konflikt räumlich einfach auszuweichen, weil sein Herrchen ihn an viel zu kurzer Leine an anderen Hunden vorbeiführt) können Hunde stressen
     

  • Lärm und Phobien, also exzessive, inadäquate Angstreaktionen in bestimmten Situationen oder durch bestimmte Gegenstände lösen ebenfalls Stress aus 

Was kann man tun, wenn der Hund offensichtlich Stress hat?

Zur Stressvermeidung gibt es leider kein Patentrezept. Wenn ein Hund Stressverhalten zeigt, muss die Situation genau analysiert werden, denn oft hat das „Stressverhalten“ nicht direkt etwas mit der auslösenden Situation zu tun. Eine alleinige Therapie der Symptome ist meist nicht die Lösung, sondern verschlimmert das Problem oft noch. Stellt man z.B. bei exzessivem Bellen, das aus einer unbekannten Stresssituation heraus geschieht, einfach nur das Symptom, also das Bellen ab, kann der Hund etwa beginnen, sich selbst zu zerstören und sich blutig beißen. Man sollte sich also immer fragen, wann hat das unerwünschte Verhalten begonnen und welche Veränderungen oder Ereignisse haben davor oder zu dieser Zeit stattgefunden, um dann wirklich die Situation für den Hund zu entschärfen, den Stress abzubauen und das Hundeleben wieder erträglich und erfreulich zu gestalten.

 

TEIL 2: BESCHWICHTIGUNGSSIGNALE

Bei Wölfen war der Einsatz von Beschwichtigungssignalen schon lange bekannt. Man nennt diese Signale auch „calming signals“ oder „cut-off-aggression signals“, wobei der letztgenannte Ausdruck schlecht gewählt ist, denn diese Signale werden bereits eingesetzt, bevor es zu Aggressionen kommt, bzw. damit es nicht zu Aggressionen kommt. Dass auch Hunde über dieses Kommunikationsmittel verfügen wurde erst von Turid Rugaas gezeigt.

Wozu dienen Beschwichtigungssignale?
Der zeitgerechte Einsatz von Beschwichtigungssignalen dient dazu, Konflikte erst gar nicht aufkommen zu lassen und seinem Gegenüber friedliche Absichten bzw. ein „sich unwohl fühlen“ in einer bestimmten Situation mitzuteilen. Beschwichtigungssignale werden auch zur Beruhigung eingesetzt (man bemerkt solche Signale auch oft bei Mitmenschen, die uns anlügen!). Beschwichtigungssignale stellen eine natürliche Verhaltensweise dar und gehören zur ganz normalen Kommunikation zwischen Hunden.

Warum sollte man sich mit den Beschwichtigunssignalen auskennen?
Wenn wir die Beschwichtigungssignale kennen und erkennen, können wir unseren Hund besser verstehen, wenn er versucht, sich uns mitzuteilen, da diese Signale ein wesentlicher Bestandteil der hundlichen Kommunikation sind. Durch gezielte Beobachtung der Beschwichtigungssignale, die unser Hund zeigt, können wir rechtzeitig stressige Situationen entschärfen, Konflikte vermeiden und eingreifen, bevor etwas passiert (sei es im Umgang mit anderen Hunden, oder mit Kindern, u.s.w.). Beschwichtigungssignale soll man weder ignorieren, noch darf man sie verbieten oder den für deren Einsatz Hund bestrafen, sonst könnte er beim nächsten Mal sofort zubeißen, ohne es vorher anzuzeigen.

Wir können Beschwichtigungssignale auch selbst gezielt einsetzen und uns somit dem Hund in seiner Sprache mitteilen. Dabei müssen wir jedoch darauf achten, dass die Signale, die wir aussenden, der Situation angemessen sind und dass wir nicht völlig überzogen reagieren. Die vom Hund gezeigten Beschwichtigungssignale müssen dabei korrekt interpretiert werden, denn sonst reagiert der Mensch im falschen Kontext.

Welche Beschwichtigungssignale gibt es?

  • „Ausweichende Signale“, wie z.B.: den Blick verkürzen; blinzeln; den Blick oder den ganzen Kopf abwenden; den Körper abdrehen bzw. ganz wegdrehen; weggehen
     

  • „Verlegenheitsgesten“, wie z.B.: sich über den Fang lecken; beiläufiges Schnüffeln; leises, schnelles Wedeln ev. sogar mit tiefer Rute; „lächeln/grinsen“ beim Dalmatiner, Schnauzer, Pudel; sich schütteln; schmatzen; gähnen; urinieren (Pfützchen bei Welpen)
     

  •  Bei Begegnungen: im Bogen gehen (unter Hunden ist es unhöflich, in gerader Linie aufeinander zuzugehen – man soll seinen Hund NIE durch kurze Leinenführung zwingen, gerade auf andere Hunde zuzugehen!); Tempo verlangsamen, bis hin zum „Einfrieren/Erstarren“; sich „ducken“, also den Kopf nach unten bewegen, wie eine Ente, die im Gras nach Schnecken sucht; eine Pfote heben; Vorderkörpertiefstellung (diese Geste ist nur bei hopsender Bewegung eine Spielaufforderung, sonst eher Beschwichtigung); sich hinsetzen oder hinlegen; den anderen völlig ignorieren, also keine Angriffsfläche bieten; das Splitten, d.h. ein unbeteiligter, neutraler Hund schiebt sich von hinten zwischen 2 potentielle Kontrahenten

Zu welchem Zweck und in welcher Reihenfolge werden soziale Gesten eingesetzt?

  •  Kommunikation: Gerät der Hund unter Stress, versucht er zuerst einmal, mit seinem Gegenüber (Mensch, Kind, anderer Hund, ...) zu kommunizieren und ihm freundlich zu sagen, dass es ihm zuviel wird: geringe Beschwichtigungssignale werden ausgesendet < der Hund versucht wegzugehen < dann setzt der Hund starke Beschwichtigungssignale ein.
     

  • Warnung: Wenn der Mensch die Kommunikationsversuche seines Hundes nicht versteht oder ignoriert, beginnt der Hund höflich zu warnen: der Hund beginnt mit Abwehraktivitäten < setzt ein „Warnbellen“ oder „Wuffen“ ein < dann knurrt er < er zeigt die Zähne < und nimmt schließlich eine drohende Körperhaltung ein.
    Die Warnungen sollte man ernst nehmen, aber keinesfalls verbieten. Man soll den Hund auch nicht bestrafen, weil er z.B. knurrt, denn sonst wird er beim nächsten Mal die Warnstufe überspringen und sofort in den Angriff übergehen.
     

  • „Angriff“: Wenn weder Kommunikationsversuche bemerkt werden noch die Warnungen des Hundes etwas nützen, bleibt dem Hund als letztes Mittel, sich zu wehren, der Angriff: der Hund schnappt < oder beißt zu

Stress und Beschwichtigunssignale kennen und richtig deuten ist wichtig, denn so können wir dem Hund signalisieren, dass wir ihn verstehen und wir können ihn sicher und vertrauensvoll führen. Unser Hund wird es uns danken!

 

BUCHEMPFEHLUNGEN:

  • Stress bei Hunden von Martina Nagel und Clarissa v. Reinhardt. Animal Learn Verlag (ISBN 3-936188-04-1)

  • Calming Signals. Die Beschwichtigungssignale der Hunde von Turid Rugaas. Animal Learn Verlag (ISBN 3-936188-01-7)

 

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